Die Hälfte der Rückrunde ist erst vorbei, doch St. Pauli gilt schon als fester Aufsteiger. Woher kommt diese Dominanz? Gemessen in Zahlen haben die Kiezkicker 5 Punkte Vorsprung auf den ersten Verfolger aus Kiel, 10 Punkte auf den Relegationsrang, den zurzeit die ungeliebten Stadtnachbarn einnehmen. Da müssten schon mehr als nur Pech und Unglück zusammen kommen, um die große Aufstiegsparty zu verhindern. Seit 2011 spielt St. Pauli in der 2. Bundesliga, so lange wie keine andere Mannschaft. Die Kiezkicker präsentieren den anspruchvollsten Fußball der Liga und grüßen seit einem halben Jahr von der Tabellenspitz, nach einem spielerisch dominantem Auswärtssieg bei Hertha BSC. Nur an einem Spieltag war das anders und das war bedeutsam für den bisherigen Verlauf der Saison.
SV Wehen Wiesbaden war am letzten Spieltag der Hinrunde im Millerntor zu Gast, vor dem Spieltag lagen die Nordvereine Kiel und St. Pauli mit einem glatten Zwei-Punkteschnitt gleichauf, Holstein konnte im Heimspiel gegen Hannover mit einem Dreier vorlegen. Der Druck lag also auf den Paulianern, die zuletzt gegen tiefstehende Gegner Probleme hatten (Osnabrück in der Liga, Regionalligist Homburg im Pokal) oder nach Führung das Spiel unnötig spannend machten (Derby gegen den HSV 2:2 und in Rostock 2:3). Im letzten Heimspiel 2023 entstand eine Kombination aus beiden genannten Problemen. 71% Ballbesitz, 26:5 Torschüsse und 1:0-Führung reichten nicht für einen Heimsieg. Iredale konterte in der 84. Minute Marcel Hartel, alle Schlussbemühungen reichten nicht.
Nach dem Spiel habe ich Kapitän Jackson Irvine gefragt, ob man den postiven Aspekt bei dieser enttaäuschenden Partie sehen könnte, dass es der passende Zeitpunkt ist, um die Tabellenführung abzugeben. Denn in der Winterpause richtet sich der mediale Fokus dann auf KSV Holstein Kiel, den Herbstmeister, die dadurch auch mehr Druck bekommen. Prinzipiell ein einleuchtendes Argument, rückblickend betrachtet war es sicherlich positiv für den Verlauf im neuen Jahr, dass nicht andauernd von dem unbesiegbaren Herbstmeister St. Pauli geredet worden ist. Doch seine prompte Antwort überraschte mich und war definitv beeindruckend.
Irvine sagte, dass die Mannschaft nicht den Druck scheut, ganz im Gegenteil, sie wollen den Druck und hätten auch Spieler, die stark genug sind, um damit umzugehen. „Wir wollen das Top-Team sein, wir wollen das Team sein, dass von jedem gejagt wird. Das ist wer wir sein wollen und das ist die Art von Team, die wir sind.“ Mit dieser Einstellung landest du dann auch auf dem Tabellenplatz, wo sein Verein gerade steht, am Ende sagt der australische Nationalspieler noch, dass sie solange kämpfen werden, bis sie wieder an der Spitz stehen.
Der weitere Verlauf ist bekannt, Kiel erwischte einen schlechten Start ins neue Jahr, St. Pauli übernahm umgehend am 18. Spieltag die Tabellenführung. Seitdem wurde sie nicht abgegeben, sondern ausgebaut. In der Liga gab es 7 Siege und 2 Niederlagen, keine Spur mehr von den Unentschieden, die noch in der Hinrunde mehr als die Hälfte der Spiele ausmachte. Der Wegbereiter für die 9 Punkteteilungen in der Hinrunde war das Halbzeitergebnis, 7 mal ging es ohne Tore in die Kabine. Als ich Cheftrainer Fabian Hürzeler auf der letzten Pressekonferenz 2023 darauf ansprach, antwortete er: „Haben wir schon den ersten Ansatz.“ Und siehe da, nur einmal gab es ein 0:0 zur Pause im neuen Jahr.
Zuletzt beeindruckte St. Pauli nicht nur sich selbst und die eigenen Fans, sondern auch Gegner und schärfste Kritiker. Die dominanten Auftritte zuhause gegen Absteiger Hertha BSC und in Nürnberg ließen keine Zweifel aufkommen lassen, dass diese Mannschaft nicht mehr lange die 2. Liga verzaubern wird. Beim letzten Spiel durchbrach Torjäger Eggestein seine Durststrecke, er hatte seit der Hinrunde nicht mehr getroffen, doch auch er ist in der ganzen Zeit sehr ruhig und souverän geblieben. Auf meine Nachfrage sagte er, dass er sich nicht nur über seine Scorerpunkte definiere und Trainer Fabian Hürzeler dies ebenfalls nicht tue. Der zweite Torschütze des Tages Marcel Hartel, sagte mir ganz simpel, „ich gehe auf den Platz, um 3 Punkte zu holen, dafür arbeite ich, dafür lebe ich und das hat heute wieder gut funktioniert.“.
Das Erfolgrezept von Fabian Hürzeler und seinem Team ist es, von Spiel zu Spiel zu schauen, in dem komplexen Anforderungen und Anweisungen auch eine gewisse Einfachheit zu behalten. Sie bewahren die Ruhe und sprechen selbstverständlich nicht von einem sicheren Aufstieg, doch weil diese Herangehensweise so souverän und erwachsen ist, gilt der Aufstieg als sicher.
Bericht von Fridolin Haagen